
In unserer Gesellschaft scheint mir etwas sehr Wertvolles unter die Räder gekommen zu sein. Etwas, das essenziell für die Entwicklung von Persönlichkeit und Bewusstsein, aber auch für unsere körperliche und seelische Gesundheit ist: Die Stille.
Mit Stille meine ich das Gegenteil von „beschäftigt sein“. Sondern zur Ruhe kommen, alle äußeren Ablenkungen abstellen, Aktivitäten pausieren. Sich dem bewussten Nichts-Tun hin geben – am besten alleine.
Flucht vor der Stille
Diese Art der Stille steht in unserer Gesellschaft auf der Liste der bedrohten Seins-Arten. Wir überbetonen das Tun und Beschäftigt-Sein, sind mehr „human doings“ statt „human beings“. Und so flüchten wir vor der Stille in allerlei Beschäftigungen.
Dabei kann Stille so erfrischend sein. Und so kraftvoll. Damit ihre Qualitäten erfahrbar werden, müssen viele Menschen erst wieder lernen, Momente der Stille für sich zu schaffen – und auszuhalten. Das ist gar nicht so einfach!
Drohten Momente der Stille, zündeten sich viele Menschen in früheren Zeiten eine Zigarette an. Der moderne Mensch zückt heute statt dessen sein Smartphone: „Schnell noch die letzten Updates der Nachrichten-Dienste und Social Media checken!“. Und es gibt noch eine Vielzahl weiterer Ablenkungen, da ist mensch erfinderisch: Musik anschalten, sich etwas zum Knabbern organisieren, die Bude aufräumen, E-Mails abrufen, durch TV-Kanäle zappen, Online-Shoppen, jemand Anrufen, Arbeiten, Lesen, Tagträumen, YouTube-Videos anschauen – oder wie in den guten alten Zeiten eine e-Zigarette anzuzünden.
Du kannst ja mal den Selbsttest machen: Was tust du, um der Stille, dem bewussten Nichts-Tun zu entkommen? Wie lenkst du dich ab?
Wieso fürchten wir eigentlich die Stille so sehr?
Eine Gruppe von Menschen, der ich regelmäßig beiwohne, beginnt die Treffen mit einer Minute Stille. Das ist für manche kaum auszuhalten. 60 Sekunden Stille kann so schwer sein!
Stille ist den meisten Menschen unserer westlichen Zivilisation eine ungewohnte Erfahrung – und unangenehme obendrein. Denn wenn es still wird im Außen und unsere Aufmerksamkeit dort keine Beschäftigung mehr findet, dann wird unser Innenleben wahrnehmbar. Und das, was dort wahrgenommen wird, ist für die meisten zunächst eher unangenehm: Kreisende Gedanken, manchmal begleitet von Sorgen oder Zukunftsängsten. Unangenehme Gefühlswellen, wie Mangel, Groll, Angst, Trauer oder Sinnlosigkeit.
Diese unangenehmen Empfindungen aktivieren Fluchtimpulse – der Fokus ist ruckzuck wieder im Außen, manchmal bekräftigt durch Gedanken wie: „Genug herum gehockt, jetzt muss ich…“. Ja, Stille ist eine krasse Erfahrung!
Erst in der Stille hören wir des Lebens feine Töne.
Monika Kühn-Görg
Der Wert der Stille für unsere Entfaltung
Die kleine Schwester der Stille ist die „Ruhe“. Dort entspannen wir uns, ohne äußere Ablenkungen, eventuell mit einer schönen und eher ruhigen Musik. Diese Momente der Ruhe haben schon eine große heilende Wirkung für unsere Gesundheit und Seele.
Noch heilsamer allerdings ist das, was ich in diesem Artikel mit „Stille“ meine. Der Unterschied liegt für mich darin, dass bei der entspannten Ruhe die Gedanken gerne mal abdriften und die schönsten Tagträume fantasieren. So ist Ruhe näher an „schlafen“. Stille dagegen hat eine kraftvolle kristalline Klarheit – dort bleibe ich wach und lausche bewusst in meine Innenwelt, um „des Lebens feine Töne“ mit zu bekommen, wie die Buchautorin Monika Kühn-Görg so schön beschreibt.
Wenn wir diese Art der Stille und das, was sich uns dann zeigen will, aushalten können, dann entfaltet sie eine wunderbare heilende und transformierende Wirkung. Denn wird der Raum aufgespannt, in welchem sich Persönlichkeit und Bewusstseins entwickeln können.
Die gute Nachricht: das Aushalten der Stille kannst du üben. Und mit der Zeit wirst du ihren heilenden Effekt genießen lernen.
Der 1-Minuten Praxistipp für bewusste Stille
Vielleicht fängst du heute schon an. Nimm dein Smartphone – aber nicht, um News zu checken, sondern stelle dort den Timer auf eine Minute.
Falls du magst und es den Gedankenzirkus im Kopf beruhigt, verbinde dich mit etwas Schönem (lies dazu auch den vorherigen Artikel). Manche stellen vor sich eine Blume oder ein Bild auf, welches sie vor dieser Übung einige Atemzüge lang betrachten und die Schönheit auf sich wirken lassen.
Schließe nun die Augen, richte deinen Fokus nach Innen auf den Fluss deines Atem, und versuche zu erspüren, wie er in deinen Körper ein- und aus ihm wieder ausfließt.
Nimm nun wahr, was in dieser Zeit in dir auftaucht – welche Gedanken oder Gefühle zeigen sich? Ohne etwas damit zu tun, nur wahrnehmen. Und lenke immer wieder den Fokus auf den Fluss deines Atems.
60 Sekunden lang.
Falls du offen für Experimente bis, probiere Folgendes: Versuche, einige Atemzüge im Kopfbereich zu spüren. Danach versuche, wieder einige Atemzüge den Herzbereich wahrzunehmen – und danach weiteren Atemzügen im Bauchraum. Wie fühlt sich das für dich unterschiedlich an? Wo ist es für dich am angenehmsten?
Und wenn dir dieser Moment der Stille gut getan hat, wie wäre es, wenn du dir diese kurze Auszeit täglich fest einplanst in deinen Kalender?